Etappe 2: Jengelvatnet - Litle Kjukkelvatnet
Heute Morgen sieht das Wetter bedeutend besser aus. Zwar empfängt mich
kein strahlend blauer Himmel, doch die Bewölkung deutet auf maximal ein paar
kleinere Schauer hin. Die Berge sind frei. Ein gutes Zeichen. Die Luft verliert
jetzt deutlich an Feuchtigkeit. Das Barometer hat über Nacht nochmals einen
Satz nach oben gemacht.
Als ich gegen 9 Uhr aufbreche, ist es mit 18 Grad angenehm mild. Ich schlüpfe
in T-Shirt und kurze Hosen. Die Mücken lassen sich die Gelegenheit nicht
entgehen und umschwirren mich bald in zunehmender Anzahl. Der Griff zur
Chemiekeule hält mir die Biester vom Leib. Ich vermute, dass ihre Population
so spät im Jahr schon merklich ausgedünnt ist, doch für meinen Geschmack
sind die Blutsauger noch immer zu aktiv.
Am Jengelvatnet begegne ich einem jüngeren Holländer, der vor seinem
winzigen Zelt Kaffee kocht. Er erzählt mir, dass er gestern einen Umweg von
einem Tagesmarsch machen musste, um den Fluss Biseggelva zu furten. Die
Regenfälle der letzten Tage hatten den Pegel soweit anschwellen lassen, dass
eine Querung im unteren Abschnitt unmöglich war.
Fast bis zum Søre Biseggvatnet sei er hochgelaufen. Immerhin, ein Umweg von gut 10 Kilometer. Ich merke mir die Passage. Für alle Fälle.
In höheren Lagen müsse ich mit ausgedehnten Schneefeldern rechnen. Vor einem Monat sei hier noch alles tief verschneit gewesen, erklärt
er zu meinem Erstaunen.
Kein Problem, denke ich, schließlich ist die Tour so geplant, dass ich nicht tagelang in Höhenlage laufen muss. Aus Erfahrung weiß ich, dass
die Vegetation in diesen Breitengraden bei Höhen über 1000 Meter gänzlich verschwindet. Der Boden ist dann meist übersät von Felsen
oder mannsgroßen Blocksteinen. Eine Mondlandschaft. Zelten ist meist unmöglich, da der Boden durch die strengen Frostperioden extrem
aufgeworfen ist. Bei schlechtem Wetter kann es außerdem im Gebirge ungemütlich werden, wenn man keinen geschützten Platz findet. Er
erzählt von heftigen Wetterwechseln, Stürmen und Wassereinbruch im Zelt. Hoffentlich bleibt mir das erspart, geht es mir durch den Kopf als
ich weiterlaufe. Wenn ich nur geahnt hätte, was da noch auf mich zukommen soll …
Die rote Hütte am Jengelvatnet ist offen. Allerdings nur das kleine
Vorzimmer. Gut zu wissen! Wenn es wirklich dick kommt, kann man den
kleinen Raum als Notunterkunft nutzen. Der ausgetretene Jengelvegen
verliert sich drei Kilometern weiter in den zum Litle Kjukkelvatnetsanft sanft
abfallenden Wiesen. Ab jetzt muss ich mir meinen Weg selbst suchen. Am
Ufer des durch zahlreiche Inseln zergliederten Sees steht ein weißes
wigwamähnliches Zelt. Die Bewohner, zwei Fischer, angeln unweit ihrer
Behausung. Sie können gar nicht glauben, dass ich ohne Angelzeug
unterwegs bin. Einer der beiden holt demonstrativ aus seinem Korb eine gut
gewachsene Forelle. Die würde mir nicht schlecht schmecken ...
Kurz darauf muss ich einen kleinen Bach furten. Er ist nicht breit, vielleicht 6
Meter, führt aber erstaunlich viel Wasser. Auf der anderen Seite angelangt,
überdenke ich meine Route.
Die nächsten 5 Kilometer bis zum Gaukarvatnet gilt es, den besagten
Biseggelva und dann noch den Kjukkelelva zu queren. Klar, die
Wasserstände fallen nach einer Regenperiode rasch ab, doch in die
Fußstapfen des Holländers möchte ich nicht unbedingt treten. Auf einen
Riesenumweg habe ich zu Beginn der Tour keine Lust. Also entschließe ich
mich für den direkten Weg zum Gaukarvatnet. Dazu muss ich aber den Durchfluss am Litle Kjukkelvatnet furten. Keine 10 Minuten später
packe ich meine Jagdstiefel an geeigneter Stelle wieder in den Rucksack, schlüpfe in meine Trekkingsandalen und taste mich vorsichtig
durch das eiskalte Wasser. Es reicht mir zwar an der tiefsten Stelle schon gut eine Handbreit übers Knie, doch die Strömung ist moderat.
Einen Augenblick später bin ich auf der anderen Seite. Super! Das klappt ja wie am Schnürchen. In Punkto Flussquerungen bekommt man
hier schnell Routine.
Von Westen ziehen dunkle Wolken auf, die Berge hüllen sich in Wolken. Es
wird Zeit, nach einem Platz für die Nacht Ausschau zu halten. Auf einer
winzigen Wiesenfläche direkt am See baue ich mein Zelt blitzschnell auf.
Keine Minute zu früh. Kaum in meine Behausung geschlüpft, entlädt sich ein
heftiger Regenguss. Es trommelt wie verrückt aufs Zeltdach. Ob alles dicht
bleibt? Schließlich habe ich das Zelt noch nicht auf Sturm und Regen hin
getestet. Die Tour in den Hohen Tauern bei bestem Sommerwetter zählt
nicht. Doch alles bleibt trocken. Kein Tropfen dringt durch das dünne Nylon.
Am späten Nachmittag hört der Regen auf. Ich wasche mich in den kühlen,
klaren Fluten des Sees. Erfrischt gehe ich auf Beerensuche und entdecke zu
meiner Freude unweit ein riesiges Feld Moltebeeren. Viele sind noch rot, also
unreif, was auf einen regenreichen und kühlen Sommer hindeutet. Doch es
gibt genügend orangefarbene reife Früchte. Ich kann mein Glück kaum
fassen und nach kurzer Zeit ist eine 3 Liter Plastiktüte voll der süß-saueren
Köstlichkeit.
Für Moltebeeren laufe ich in der Tat meilenweit. In einer Broschüre habe ich
gelesen, man wolle das Gold des Nordens (so wird die Moltebeere
tatsächlich bezeichnet) jetzt in Treibhäusern züchten.
Ich bezweifle, ob das gelingt. Das Besondere ist schließlich ihre überaus komplexe Geschmacksnote. Diese erhält sie aber gerade durch
ihren Standort in freier Natur, bevorzugt auf torfigem Boden. Je nach Lage variiert er, ähnlich wie bei einem guten Wein.